Gender
Ein Begriff und seine Bedeutung
Der Begriff Gender ist derzeit vor allem in seiner Ablehnung durch mächtige konservative Politiker in den Medien. Aus diesem Grund soll dieser Beitrag zeigen, was dieser Begriff bedeutet und welche Folgen seine Ablehnung haben kann.
Gender bezeichnet im Gegensatz zum biologischen Geschlecht (engl. sex) das soziale Geschlecht bzw. die Geschlechtsidentität (engl. gender). Gender umfasst all jene gesellschaftlichen Vorstellungen davon, wie Frauen und Männer sein sollen. Konkret bedeutet dies wirtschaftliche, soziale, kulturelle Zuschreibungen in Bezug auf geschlechtsspezifische Rollen, Rechte und Pflichten, die wesentliche Auswirkungen auf das Leben von Frauen und Männern haben.
Der Begriff Gender verdeutlicht damit auch, dass Geschlechtsrollen nicht angeboren, sondern gesellschaftlich vermittelt und erlernt sind und sich daher im historischen Wandel verändern.
In ihrem 1949 erschienen Buch „Das andere Geschlecht“ hat Simone de Beauvoir bereits darauf hingewiesen, dass Frauen dabei mit Bezug auf den Mann bestimmt und unterschieden werden und er das Subjekt, das Absolute ist, „sie ist das Andere“. Dementsprechend ist die Vorstellung der Welt, „wie die Welt selbst, das Produkt der Männer: Sie beschreiben sie von ihrem Standpunkt aus, den sie mit dem der absoluten Wahrheit gleichsetzen.“
An dieser Stelle soll auf die Bedeutung der Entwicklung einer geschlechtersensiblen Forschung eingegangen werden. Caroline Criado Perez hat in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert“, das 2019 in englischer und 2020 in deutscher Sprache erschienen ist, unter Bezugnahme auf diesen Ausspruch von Simone de Beauvoir die Welt der Wissenschaft und deren geschlechterbezogene Lücke in den wissenschaftlichen Daten aufgezeigt.
Ausgehend vom Alltagsleben, über den Arbeitsplatz, das Design, den Arztbesuch, das öffentliche Leben bis hin zu Katastrophen und Wiederaufbau hat sie anhand von vorhandenem Datenmaterial untersucht, wie sehr die Lebenswirklichkeit der Frauen in der Wissenschaft ausgeblendet bzw. nicht einbezogen wird.
Festgestellt hat sie, dass über das Leben der Frauen, der Hälfte der Menschheit, oft einfach nur geschwiegen wird, von Nachrichten, Kultur, Wissenschaft und Stadtplanung bis zur Wirtschaft. Dabei geht es jedoch nicht nur um die Leerstellen, sondern vor allem darum, welche Folgen sie für das Leben von Frauen haben. Diese Folgen zeigt sie in den verschiedenen Kapiteln ihres Buches auf, aus denen ich zur Veranschaulichung einige Beispiele herausgegriffen habe.
Sie reichen von geringen Folgen, wenn Frauen beispielsweise im Supermarkt ein höheres Regal nicht erreichen können, weil dieses gemäß der Norm nach männlicher Körpergröße gebaut wurde oder Frauen frieren müssen, weil die Temperaturnormen in Büros an den Bedürfnissen von Männern ausgerichtet sind.
Ein weiteres Beispiel sind die neuen Technologien. Gesundheits-Apps, die den Menstruationszyklus vergessen; Smart-Watches, die für die Handgelenke vieler Frauen zu groß sind; Karten-Apps, die zwar die schnellste, aber nicht die sicherste Route anzeigen; Smartphones, deren Größe sich an jener von Männerhänden orientiert, bis hin zu Übersetzungssoftware, die weibliche Bezeichnungen nicht korrekt übersetzt.
Fehlende Daten können aber auch lebensbedrohliche Folgen haben. Wenn zum Beispiel bei Sicherheitsvorkehrungen in Autos weibliche Körpermaße nicht berücksichtigt werden. Dies ist dann der Fall, wenn die Überprüfung von Autos durch den Hersteller mit Crash-Test-Puppen (Dummys) erfolgt, die dem durchschnittlichen Mann entsprechen.
Ebenfalls dramatisch sind die Folgen im medizinischen Bereich. Wie Criado-Perez schreibt, hat die Wissenschaft „in jedem Gewebe und Organsystem des Körpers geschlechtsspezifische Unterschiede entdeckt, aber auch in Auftreten, Verlauf und Ausprägung der meisten häufigen menschlichen Erkrankungen.“ Dennoch blieben Frauen in der medizinischen Forschung weithin unterrepäsentiert, was wieder Auswirkungen auf Daten, Erkenntnisse und folglich Diagnosen, Medikation und ärztliche Beratung hat.
Anhand dieser wenigen Beispiele wird bereits deutlich, wie wichtig die Genderperspektive in der Forschung in allen Bereichen ist. Genderforschung im speziellen untersucht, welche Auswirkungen Geschlechtsrollen und -normen auf das Leben von Menschen haben, um Probleme und Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Das bedeutet natürlich auch, dass entsprechende Forschungsmittel dafür zur Verfügung gestellt werden und jene, die Forschungsprogramme beauftragen und fördern auch klarstellen müssen, dass Datenerhebung und Datenauswertung beide Geschlechter und ihre Lebenswelten in gleichem Maße berücksichtigen oder spezielle Untersuchungen zu jenen Fragestellungen, bei denen Frauen bisher entweder nicht oder zu wenig berücksichtigt wurden, durchführen müssen.
Denn das Verschweigen von Lebensrealitäten einer Hälfte der Bevölkerung, der Frauen, ist das Problem, nicht die Lösung! Um mit einem Zitat von Caroline Criado-Perez zu schließen: „Bei der Planung und Entwicklung unserer Welt müssen wir endlich anfangen, die Leben von Frauen zu berücksichtigen.“
Buch: Caroline Criado-Perez, Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. btb-Verlag, München 2020
