Das Wiener Modell

Das Wiener Modell

Österreich und die Shoah

Am Wiener Heldenplatz, gegenüber dem Haupteingang zum Weltmuseum, ist seit 15. Oktober bis 10. Dezember 2021 die frei zugängliche Outdoor-Ausstellung “Das Wiener Modell der Radikalisierung. Österreich und die Shoah” zu sehen. Zudem wird auch im Hauptbahnhof in Wien in einer kleinen Ausstellung der Deportationen gedacht.

Die Ausstellung wurde vom Haus der Geschichte Österreich (hdgö) in Kooperation mit dem Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und dem Verein zur Förderung kulturwissenschaftlicher Forschungen organisiert und von den Wissenschaftlerinnen Michaela Raggam-Blesch, Heidemarie Uhl und Isolde Vogel als Kuratorinnen hervorragend aufbereitet und gestaltet.

Wiener Modell der Radikalisierung (c)Lorenz Paulus_hdgö

Aus Anlass des 80. Jahrestages der ersten reichsweiten Deportationstransporte im Oktober 1941 wird mit dieser Ausstellung die Rolle Wiens als Motor der Radikalisierung des Antisemitismus im nationalsozialistischen Deutschen Reich, als “Experimentierfeld” für den Terror gegen die jüdische Bevölkerung und für die Organisation der systematischen Massendeportationen in die Vernichtungslager gezeigt.

Foto aus der Ausstellung: Das Wiener Modell der Radikalisierung. Wien 2021

Antisemitismus hatte in Österreich und besonders in Wien eine lange Tradition. Nur so war es möglich, dass die Hetzparolen der Nationalsozialisten auf so fruchtbaren Boden fielen. Mit dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich durch das am 13. März 1938 beschlossene Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich traten auch die judenfeindlichen Maßnahmen, die in NS-Deutschland schon seit 1933 eingeführt worden waren, sofort in Kraft. Gleichzeitig begannen die gewalttätigen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung: Übergriffe, Misshandlungen, die berüchtigten “Reibpartien”, bei denen Juden mit ätzender Lauge die Parolen für ein unabhängiges Österreich von den Straßen waschen mussten, Plünderungen von Wohnungen und Geschäften, Entlassungen, Berufsverbote, Boykottaufrufe wie “Kauft nicht bei Juden”, antisemitische Beschmierungen von jüdischen Geschäften, und sogenannte “wilde Arisierungen”, d.h. die Enteignung jüdischer Geschäfte ohne Genehmigung der NS-Behörden. Diese tagelangen Ausschreitungen nach dem Anschluss waren auch ein deutliches Zeichen dafür, dass die judenfeindlichen Maßnahmen von der Bevölkerung mitgetragen wurden und wenig Widerstand dagegen zu erwarten war.

Bereits am 18. März 1938 wurde unter der Leitung von Adolf Eichmann, damals Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes der SS, eine Razzia in der Israelitischen Kultusgemeinde Wien durchgeführt, die ab diesem Zeitpunkt unter Kontrolle des Sicherheitsdienstes der SS stand. Bereits im August wird die “Zentralstelle für jüdische Auswanderung” eingerichtet, die zuerst von Adolf Eichmann, danach von Alois Brunner, geleitet wurde. Deren Ziel war von Beginn an die systematische Beraubung und Vertreibung, nach dem Überfall auf die Sowjetunion ab 1941 dann die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Ab September 1941 waren Juden und Jüdinnen verpflichtet, den gelben “Judenstern” zu tragen, ab 23. Oktober 1941 war ihnen die Auswanderung verboten.

Betroffen von diesen Maßnahmen waren mehr als 200.000 Personen, Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinden in Österreich waren oder durch die Nürnberger Gesetze als jüdisch definiert wurden. Die meisten von ihnen, rund 180.000, lebten in Wien. Zwischen 1938 und 1941 konnten und mussten 130.000 das Land verlassen – gezwungen zur Flucht unter Zurücklassung ihres Besitzes, da sie ihre Existenzgrundlage verloren und zunehmenden Repressalien ausgesetzt waren. In den Zufluchtsländern fanden nicht alle Schutz; 17.000 der Geflüchteten wurden nach der Besetzung dieser Länder dort Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung.

Foto aus der Ausstellung: Das Wiener Modell der Radikalisierung. Wien 2021

Pläne dafür, Wien als erste Großstadt “judenfrei” zu machen, wurden durch den Wiener Reichsstatthalter und Gauleiter Baldur von Schirach bereits ab Oktober 1940 verfolgt. Bereits im Dezember 1940 teilte die Reichkanzlei mit, dass der Führer die Entscheidung getroffen hat, die im Reichsgau Wien noch wohnhaften Juden beschleunigt in das Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete abzuschieben. In Wien lebten damals noch 61.135 Juden und Jüdinnen, darunter auch jene, die aus den Bundesländern nach Wien vertrieben worden waren.

Die Aufgabe der von der SS geführten “Zentralstelle für jüdische Auswanderung” wurde nun die Vorbereitung und Durchführung der Massendeportationen aus Wien. Damit begann in Wien die Entwicklung des organisatorischen Modells der systematischen Massendeportationen.

Das in Wien durch die von der SS geleitete “Zentralstelle für jüdische Auswanderung” entwickelte und mit den ersten fünf Deportationen erprobte System wurde zur Grundlage für die Deportationen im gesamten nationalsozialistischen Herrschaftsgebiet. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Einrichtung von vier sogenannten Sammellagern in der Castellezgasse, der Kleinen Sperlgasse und der Malzgasse im 2. Wiener Gemeindebezirk, von denen aus die Deportationen erfolgten. Die zur Deportation vorgesehenen Personen wurden von der “Zentralstelle” mittels Postkarten aufgefordert, in das Sammellager “einzurücken”. Um auch jener Personen, die dieser Aufforderung nicht Folge leisteten, habhaft zu werden, erfolgten bald Anhaltungen auf offener Straße und ab November 1941 wurde mit systematischen “Aushebungen” begonnen, bei denen jeweils in bestimmten Teilen der Stadt jedes Haus durchsucht wurde. Im Sammellager mussten sich die Internierten ausweisen, wurden erfasst, mussten einen Vermögensverzicht unterschreiben und alle Wertgegenstände und Bargeld aushändigen. Für die meisten erfolgte von den Sammellagern aus die Deportation; nur jene Personen, die eine ausländische Staatsbürgerschaft hatten oder durch nicht-jüdische Verwandte geschützt waren, hatten die Möglichkeit, “zurückgestellt” und nicht deportiert zu werden.

Insgesamt wurden zwischen 15. Februar 1941 und 9. Oktober 1942 45.451 Menschen in 45 Transportzügen mit jeweils rund 1000 Menschen vom Aspangbahnhof deportiert. Zielorte der Deportationen aus Wien waren Ghettos und Vernichtungslager, darunter Theresienstadt, Opole, Litzmannstadt, Auschwitz-Birkenau, Sobibór, Maly Trostinec und Riga.

Deportationsliste©-Archiv-der-Israelitischen-Kultusgemeinde-Wien

Mit dieser bewusst niederschwellig konzipierten Ausstellung werden die Themen Antisemitismus und Rassismus, Vertreibung, Deportation und Vernichtung, aber auch Flucht, Widerstand und jüdische Selbsthilfe sowie das Schweigen über den Holocaust nach dem Zeiten Weltkrieg kompakt, verständlich und durch eine kluge Auswahl an Informationen und Bildmaterial anschaulich vermittelt.

Die Beschäftigung mit der Geschichte ist nicht Selbstzweck, sondern von zentraler Bedeutung für das Verständnis von politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und unserer Gegenwart.

Sollten Sie bis 10. Dezember am Heldenplatz (oder bis 30. November 2021 am Hauptbahnhof) vorbeikommen – gehen Sie an dieser Ausstellung bitte nicht vorbei, sondern nehmen Sie sich Zeit, sich mit diesem Kapitel der Geschichte Österreichs auseinanderzusetzen.

Antisemitismus – und auch Rassismus – gehören leider noch immer nicht der Vergangenheit an. Wir wollen gerade hier, auf dem Heldenplatz, mit dieser Ausstellung und den Vermittlungsangeboten im Haus der Geschichte Österreich ein Zeichen gegen Antisemitismus setzen und Bildungsmaßnahmen niederschwellig zugänglich machen.” (Monika Sommer, Direktorin des Hauses der Geschichte)

Ort: Heldenplatz, gegenüber dem Eingang zum Weltmuseum, 1010 Wien. Bis 10. Dezember 2021. Frei zugänglich!

Hauptbahnhof Wien, Eingangshalle gegenüber den Fahrkartenschaltern. Bis 30. November 2021. Frei zugänglich!

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